Ein Berliner Arzt klagt an: "Ich bin fassungslos, mit welchem Leichtsinn bei uns geimpft wird" Hustende und schniefende Mediziner, die ohne Schnelltests und eigene Impfung auf Patienten losgelassen werden: Die NZZ protokolliert, was ein Arzt in einem der grossen Impfzentren in der deutschen Hauptstadt erlebt hat.

Marc Felix Serrao, Berlin 18.03.2021, 12.58 Uhr

Riskanter Besuch? Berliner auf dem Weg zum Corona-Impfzentrum auf dem Messegelände im Westen der Stadt.
Stefan Zeitz / Imago

Die deutsche Corona-Impfkampagne mag nur schleppend vorankommen, erst recht seit dem vorübergehenden Stopp des Impfstoffs von AstraZeneca. Aber, so könnte man mit der Kanzlerin einwenden: Der Staat achtet immerhin auf die Sicherheit. Schon bei der Zulassung der Impfstoffe gehe Deutschland lieber gründlich vor, sagte sie kürzlich im Fernsehen. Man sei schliesslich auf das Vertrauen der Menschen angewiesen.

Ein Berliner Arzt, der gerade das Vertrauen in die politisch Verantwortlichen zu verlieren droht, hat sich nun bei der NZZ gemeldet. Was er in dieser Woche bei seinem ersten Einsatz im Impfzentrum auf dem Messegelände der Hauptstadt erlebt habe, mache ihn fassungslos, sagt er. Der Mediziner, der seit zehn Jahren praktiziert, will nicht mit Namen in der Zeitung stehen und auch niemanden persönlich anschwärzen. Trotzdem halte er die Vorgänge für so beunruhigend, dass er sie nicht für sich behalten wolle. Hier ist sein Protokoll:

Wir Ärzte betreten das Impfzentrum auf dem Messegelände über den Personaleingang rechts neben dem Eingang Nord. Dort angekommen, bildet sich an diesem Morgen sofort eine lange Schlange. Klar, denke ich: Schichtwechsel. Ausserdem müssen die Kollegen ja alle schnell auf Corona getestet werden. Getestet wird dann nur die Körpertemperatur - draussen vor der Tür, bei etwa acht Grad Celsius, mit einem Infrarot-Fieberthermometer auf der Stirn.

Anschliessend wird unsere Gruppe aus etwa 30 Ärzten in einen Besprechungsraum geführt, wo sich der Leiter des Impfprojektes vorstellt. Es folgt eine kurze Einweisung, bei der die Kollegin neben mir ausgiebig hustet und sich mehrmals schnäuzt. Ich nehme Abstand, schliesslich sind wir alle noch nicht getestet worden.

Als Nächstes fragt der Leiter, wer schon alles geimpft sei. Es meldet sich rund ein Drittel der Ärzte. Der Leiter äussert seinen Unmut über diese Tatsache und bietet der ungeimpften Mehrheit seine Hilfe an, Druck bei der KV (der Kassenärztlichen Vereinigung, Anm. d. Red.) zu machen, damit auch sie möglichst bald geimpft werde. Ich bin bei der KV bisher übrigens nur als zu Impfender im System aufgenommen worden, nach mehrfacher Nachfrage meinerseits.

Dann soll es losgehen. Ich frage nach, wo denn der Schnelltest stattfinde. Die Antwort des Leiters: "Das ist nicht vorgesehen." Es gebe weder Schnelltests noch die Räumlichkeiten dafür. Diese Aussage führte zu einer betretenen Stille unter den Ärzten.

Die Impfstrasse besteht aus zwei Mal etwa acht bis zehn Kabinen, die jeweils von zwei Seiten zugänglich sind. Jedem Arzt werden zwei Kabinen zugeteilt, in denen wir primär impfen sollten. Zusätzlich werden wir gebeten, nach Möglichkeit in den gerade leerstehenden Kabinen von langsameren Kollegen auszuhelfen.

Die Impfung läuft so ab: Ein Dokumentationsassistent bringt die Patienten in die Kabine, wo als Erstes ein Aufklärungsgespräch stattfindet. Bei meinen Gesprächen stellt sich heraus, dass die Mehrheit betagt ist und etwa 60, 70 Prozent unter schweren Vorerkrankungen leiden. Die Impfung dauert dann fünf bis zehn Minuten.

Auf der Impfstrasse herrscht ein reges Kommen und Gehen: Nicht nur ich und meine Kollegen laufen ständig von einer Kabine zur nächsten, das tun auch die Dokumentationsassistenten und Begleitpersonen. Dazu kommen die Soldaten, die neue Chargen mit dem Impfstoff von Biontech bringen.

Jetzt stellen wir uns mal vor, die offensichtlich erkältete Kollegin oder ein anderer, asymptomatischer Kollege wäre mit dem Coronavirus infiziert gewesen.

Schnelltests für die Ärzte? Nicht vorgesehen

Dann hätten sie an diesem Tag sowohl die anderen Ärzte als auch die Dokumentationsassistenten und die Soldaten anstecken können. Vor allem wären sie eine Gefahr für die meist immungeschwächten Patienten gewesen. Die kommen ja in dem Glauben, dass im Impfzentrum alle Vorsichtsmassnahmen getroffen werden, damit genau das nicht passiert. Wo, wenn nicht an diesem Ort?

Zusammenfassend kann ich nur sagen: Ich bin fassungslos, mit welchem Leichtsinn bei uns geimpft wird. Jeder Arzt und jeder Angestellte, der einen Dienst in einem Impfzentrum verrichtet, muss doch zumindest vorher einen Schnelltest machen. Sonst wird aus einem Corona-Schutz-Zentrum im schlimmsten Fall ein Corona-Verbreitungs-Zentrum.

Mir ist auch völlig unklar, warum wir Ärzte nicht selbst geimpft werden, bevor wir andere impfen - ohne Anmeldung und ohne "bitte, bitte", weil wir etwas für die Gesellschaft tun. Ich selbst teste mich seit diesem Einsatz alle paar Tage selbst.

PS: Vor kurzem habe ich auch am Flughafen Tempelhof einen Impfdienst absolviert.

Dort wurde nicht einmal am Eingang Fieber gemessen.

Die NZZ hat die Berliner Senatsverwaltung für Gesundheit am Mittwoch schriftlich gebeten, zu diesem Bericht Stellung zu nehmen. Stimmen die Angaben des Arztes? Und falls ja: Wie erklärt sich die Behörde, dass die in dem Impfzentrum eingesetzten Ärzte weder alle geimpft sind noch vor ihrer Arbeit getestet werden? Setzt ein solches Vorgehen die Menschen, die dort geimpft werden und oftmals schwere Vorerkrankungen haben, nicht einem unnötigen Risiko aus? Bis jetzt liegen keine Antworten vor.


Quelle: NZZ vom 18.03.2021